Kritik der Freiheit by Höffe Otfried
Autor:Höffe, Otfried [Höffe, Otfried]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783406675041
Herausgeber: C.H.Beck
veröffentlicht: 2015-04-21T16:00:00+00:00
9.3 Freiheitsgefährdendes Wissen 2
Zwei weitere, grundlegend andere Arten freiheitsgefährdenden Wissens betreffen einen wichtigen Freiheitsaspekt, ein Leben ohne Angst. Bei der einen Art lernt man teils auf traditionelle, teils auf neuartige Weise Erbkrankheiten kennen, unter denen möglicherweise man selbst oder die eigenen Kinder leiden werden. Zum anderen gibt es insofern gefährliche Diagnosen, als sie einen Sachverhalt benennen, der eine bisherige Sicherheit erschüttert, mithin Freiheit einschränkt. Dann ist das Wissen nicht in dem üblichen Sinn gefährdend, daß seine Verwendung eine Gefahr heraufbeschwört, vielmehr ist schon der gewußte Sachverhalt gefährlich. Weil mit ihm die Angst ins Leben einbricht, schmilzt ein Gutteil der Freiheit dahin. Beispiele finden sich sowohl im öffentlichen als auch im persönlichen Leben:
Schon seit längerem ist die Politik für das Thema der Generationengerechtigkeit sensibel, nimmt aber über viele Jahre eine auffallende Selektion vor. Sie setzt sich zwar für den Umweltschutz ein, verdrängt aber die andere Frage der Generationengerechtigkeit, die immer noch wachsende und keineswegs durch Investitionen gerechtfertigte Staatsverschuldung. Noch deutlicher gefährlich ist das Wissen um eine veränderte, durch weniger Jugendliche und mehr Ältere bestimmte Bevölkerungsstruktur. Die einschlägige Diagnose ist zwar seit langem bekannt. Sie erfordert aber tiefgreifende Reformen (s. die keineswegs von Pessimismus dominierten Empfehlungen der Akademiengruppe «Altern in Deutschland»: Kocka u.a. 2009). Deshalb wird sie noch bis heute lieber verdrängt.
Für das persönliche Leben bieten ein gutes Beispiel gefährlichen Wissens medizinische Diagnosen, durch die eine bislang gesunde Person erfährt, an einer schweren, eventuell sogar lebensgefährlichen Krankheit zu leiden. Ein anderes Beispiel bietet die genannte Frühdiagnose von Erbkrankheiten. Weiterhin gibt es, erneut im Bereich der Medizin, eine sogenannte Überschußinformation. Bei einer gezielten genetischen Untersuchung werden mitlaufend Dinge gefunden, die nicht zu der zur Untersuchung stehenden Frage gehören. Ferner können sogenannte Zufallsbefunde auftreten: Bei einer Person, die sich zur Mitwirkung bei einem medizinischen Forschungsvorhaben bereit erklärt, treten unerwartete Auffälligkeiten auf. Soll man der Versuchsperson den Befund mitteilen, obwohl man weiß, daß die meisten Auffälligkeiten bei näherer Prüfung sich als unbedenklich herausstellen, soll man also die Person mit einer belastenden Unsicherheit konfrontieren: Wie viel Wahrheit verträgt diese Person?
Eine entsprechende Frage wirft die prädiktive (voraussagende, vorausschauende) Diagnostik auf: Soll man einer Person, die derzeit geistig völlig gesund ist, eine mittels Neurobildgebung früh erkannte Demenzgefahr mitteilen, wissend, daß eine Frühbehandlung zwar wirksamer ist, die Therapiemöglichkeiten aber bislang sehr eingeschränkt sind: Wie sind hier Behandlungsvorteil und unnötige Belastung gegeneinander abzuwägen? Eine ähnliche Frage stellt sich bei Reihenuntersuchungen («Screenings») von Neugeborenen.
Bei dem im üblichen Sinn freiheitsgefährdenden Wissen muß man die Verwendung zu verhindern suchen, die die Gefährdung heraufbeschwört. Bei der neuen Art muß sich der Urheber des Wissens, der Diagnostiker, überlegen, ob und gegebenenfalls wie er sein Wissen mitteilen soll. Bei medizinischen Aufklärungsgesprächen ist die Grenze schwer zu ziehen. Denn nach dem anerkannten Prinzip der aufgeklärten Zustimmung («informed consent») muß der Patient, wie Juristen sagen, Wesen, Bedeutung und Tragweite eines ärztlichen Eingriffs in seinen Grundzügen erkennen, um dann eine wirksame Einwilligung erteilen zu können. Ob das erfordert, alle erdenklichen Komplikationen, selbst die höchst unwahrscheinlichen, zu erwähnen, läßt sich allerdings bezweifeln. Kluge Ärzte schildern lieber, wie sie das Risiko
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